Rede zur Ausstellungseröffnung in der Zeitkunstgalerie im April 2001 von Markus Metke

Richtig sieht man nur mit dem Herzen;
das Wesentliche ist für das Auge unsichtbar.
Antoine de Saint-Exupery „Der kleine Prinz“

Meine Damen und Herren, wie unwirklich schön enden die Tage am Meer. Wie unwirklich schön ist die See an einem Abend im Sommer, die Gischt auf Granit brechender Wellen, der Sand und das Strandgut oder einfach nur das einfallende Rot zwischen Sonnenunter- und -aufgangszeremonien. Wie unwirklich schön auch die entstellten Züge der urbanen Capitale – Berlin preußisch markant, jetzt im Herzen kalt sich zum Himmel streckend oder weiter im Süden ein Feldweg in der Provinz hinter welchen Industriebrachen aus dem Sächsischen lecken und an Bahnlinien vorbei, sich Bild für Bild bildet das charmante weil vielfältige Leben der Momentaufnahmen Bettina Krügers.

Aber was ist schon unwirklich, was wirklich und was unwirklich schön? Was, wenn sich das sehende Erkennen auf Wegmarkierungen beschränkt, auf Wegmarkierungen einer hektisch dahintrabenden Folge von Jahren, in der uns die Tagesreisen nur noch Reisen durch Termine sind? Ein Dauerlauf durch die Zeit, ein Schwimmen auf der Bilderflut, ein Schnellschießen der Kamera im Kopf, in Schnittfolgen, die im Zehntelsekundentakt fließend uns immer alles auf einmal zeigen wollen, bevor wir uns abends – heißa und zur Erholung, sozusagend, vor dem blauen Altar den Rest geben lassen.

Es ist eben eine Frage des Sehens, der Sicht und des Gesehenwerdens, aber auch die des Erkennens, wenn ich mir, als auch Ihnen, meine Damen und Herren, eine temporäre, also gelegentliche Blindheit unterstelle. Eine sehende Blindheit, in der wir uns durch die Tage schauen, wo es in der Regel dramatische Großformate sind, die uns die Lust am Extremen kitzelt, wenn Kampfmaschinen Wettkämpfe austragen, Container Voyeure züchten und wir zusehen, wie jedes neue, auf uns zufliegende Lebensgefühl schon wieder ersetzt wird vor der Einführung der nächsten kommenden noch größeren bildlichen Gewalt. So schauen wir uns durch die Tage, sehen uns um, sehen uns an und wissen oft nicht, was wir überhaupt gesehen haben.

Oder, um es mit Paul Celan zu sagen:

Es ist das Auge der Zeit,
das scheel blickt
unter seiner siebenfarbenen Braue
wird sein Lid von Feuern gewaschen
und seine Träne ist Dampf.

Es ist ein blinder Stern,
der uns anfliegt
und zerschmilzt an der heißeren Wimper:
dass es warm wird in der Welt,
und die Toten
knospen und blühen.

Meine Damen und Herren, wovon spreche ich eigentlich, wenn ich aus dieser Richtung kommend, zumal noch mit geliehenen Worten, auf die hier ausgestellten Fotografien aufmerksam machen möchte. Wovon, wenn ich den Geschwindigkeitsrausch unseres Sehens beschreibe und die Verlangsamung suche? Ich denke, und dieser Gedanke kann Sie an dieser Stelle kaum überraschen, ich denke, dass es von je her zu den Hoffnungen der künstlerischen Fotografie gehörte, diesem scheel blickenden Auge der Zeit etwas entgegenzusetzen.

Wissen wir doch, dass selbst der glühendste Anhänger der „objektiven Erkenntnis“ in Wahrheit nicht eine Minute lang in einer Welt leben möchte, wo es statt Stimmen von Vögeln und geliebten Menschen nur öde Schallwellen gäbe, wo Blüten keine Farben mehr haben und Düfte nur als verschiedene Sorten von ätherischen Molekülen registriert werden. Ja, wer möchte ohne die Erinnerung an jene Momente auskommen, die wir uns aus dem Gedächtnis heraus zur rechten Zeit auch wieder verlangsamen können?

Wer, frage ich, wenn ich in dem, was ich Verlangsamung nenne, den entscheidenden Ansatz der hier ausgestellten Bilder sehe. Das Festhalten von Augenblicken, das Aufzeichnen von Dingen, die durch das Auge der Zeit nicht oder nicht sofort wahrgenommen werden, ist das, was viele Fotografien dieser Exposition kennzeichnet.

Wir haben es also mit einer Bildwelt zu tun, von der die Künstlerin selbst sagt, dass diese Bildwelt immer und überall vorhanden ist und nur auf den richtigen Moment ihrer Fixierung gewartet hat. Zuerst auf der Retina belichtet, dann in die Kamera gewandert, trägt diese Bildwelt den Anspruch, im Status der entwickelten Fotografie nicht nur das wirklich Gesehene, sondern auch das emotional Empfundene auf Dauer leben zu lassen.

Sehen Sie also auf die stillen Gesänge hier präsentierter Landschaften. Sehen Sie das Schreien der Wellen, wenn die See über Buhnen gebrochen an der Küste strandet, sehen Sie das neue kalte Herz Berlins oder einfach nur zu, wie das Licht auf eine sich häutende Industrieruine fällt, sehen Sie zu, wie sie charmant ihr rohes Fleisch aus Backstein präsentiert, und sehen Sie vor allem in sich fühlend den sehenden Betrachter.

Meine Damen und Herren, sicher wird das, was uns Bettina Krüger zeigt, nur ansatzweise von jener fotografischen Moderne getragen, die sich ausschließlich dem Eigenleben von Strukturen widmet, auch finden wir nichts, was sich in zeitlosem SCHWARZWEISS allein dem SCHWARZWEISS zum Willen präsentiert, und selbst die heute so in Mode gekommene Retrospektive ist in dieser Ausstellung nicht vorhanden.

Trotzdem, oder gerade deshalb: Verweile Augenblick, du bist so schön. Trotzdem ist es der Fotografin gelungen, viele jener Momente einzufangen, die einerseits vergessen worden wären oder andererseits gar nicht erst vergessen werden konnten, weil sie an uns unbeachtet vorübergehen, bezaubernd licht, eloquent, eben unwirklich schön.

Meine Damen und Herren, damit bin ich am Ende und wieder am Anfang.Wir wissen: Das Besondere hält sich verborgen/vor dem Alltagsauge versteckt/nicht unsichtbar, nicht verloren/unantastbar vielleicht/ dann, wenn das erste Hinsehen nicht mehr ausreicht, die Tiefenschärfe sich nicht justiert und der Kopf nicht mehr still haltend, verfehlt den Augenblick des Verweilens.

Verweilen wir also in den Bildern
Suchen wir an ihnen das Besondere
Und lassen wir die Augenblicken
Für uns tanzen.

In diesem Sinne vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Ich wünsche Bettina Krüger viel Erfolg auf ihrem Weg und Ihnen allen, meine Damen und Herren, einen angenehmen Abend.

Wasser, Ausstellung